
Türchen 24
Pair: Runan x V
Kinks/Warnung: Fluff, Triggerwarnung, Gewalt, Folter, Selbstverstümmelung
Es war einmal...


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Hinweis: AU, eher wenige Erwähnung von One Piece Charakteren. Hier sind meine und die Ocs von meiner MMFF im Vordergrund, sowie meine erfundene Rasse die „Thán“. Es kann auch ohne Wissen zu meiner MMFF gelesen werden.
Spoiler zu Pair in Ju ni!
Runan wusste nicht, was es genau war, dass ihn bis in seine Grundfeste erschütterte. Vielleicht lag es an den zerrissenen Lumpen, die der blauhaarige Mann trug und kaum von der schützenden Decke versteckt werden konnten. Vieleicht lag es an seinen viel zu langen, dreckigen und verfilzten Haaren, an seinem abgemagerten Körperbau oder den vielen Narben und Verbänden. Es könnte aber genauso gut an dem leeren Blick in seinen Augen liegen, trotz des breiten Grinsens auf seinem Gesicht.
„Ich glaube, ich muss mich bei dir für meine Rettung bedanken. Deshalb... Dankeschön!“ Selbst seine Stimme klang neutral, beinahe schon glücklich. Doch Runan konnte das nicht täuschen. Er sah, wie erschüttert dieser Mann war, der vor seinem älteren Bruder stand, mutig seine Hand ausstreckte und sich für seine eigene Rettung bedankte.
Obwohl er zu ihnen gehörte. Obwohl er ein Thán war, wie Runan, sein Bruder und wie der gesamter Stamm es war.
Der Gelehrte konnte das Gemurmel überall hören. Verständlich, der Gerettete verwendete die Menschensprache. Runan verstand sie, weil er als Gelehrte bereits jede gesprochene und geschriebene Sprache beherrschte. Aber viele im Stamm kannten sie nicht und weigerten sich, Menschenworte in den Mund zu nehmen.
Sein ältester Bruder und baldiges Stammesoberhaupt beherrschte sie allerdings. Er ergriff die Hand des Blauhaarigen und lächelte ihn an. „Du brauchst dich für diese Selbstverständlichkeit nicht bedanken. Ich schulde dir eine Entschuldigung. Wir haben viel zu lange gebraucht, um dich zu finden und zu retten. Ich hoffe, dass wir das eines Tages irgendwie wieder gut machen können! Willkommen daheim Velajuel!“
Der Blauhaarige lächelte breiter, doch seine Augen blieben weiterhin tot.
Er fühlte sich nicht wohl, dass erkannte Runan sofort. Wie auch? Der Stamm war zwar sein Geburtsort, aber er war 23 Jahre nicht hier gewesen. Es war nicht sein Zuhause, noch nicht jedenfalls.
Bevor er überhaupt selbst realisierte, was er vorhatte, bewegte sich sein Körper auf den Blauhaarigen zu und blieb neben Rengar stehen. „Ich würde mich gern seiner annehmen.“ Er verwendete bewusst die Menschensprache, um Velajuel wissen zu lassen, dass er ihn nicht ausgrenzen wollte. „Ich würde dir gern all unsere Rituale, die Sprache und unsere Religion wieder näherbringen. Wenn es okay für dich wäre.“ Jetzt wandte er sich direkt an ihn. Der Mann mit dem Blick aus flüssigem Honig nickte lächelnd. „Sehr gern!“
Runan fragte sich in diesem Moment, ob das Lächeln jemals wieder seine Augen berühren würde. Er ballte kurz die Hände zu Fäusten. Er würde alles daran setzen, die Schatten aus seinen Augen zu vertreiben!
Der Weißhaarige wandte sich seinen Bruder zu. Der lächelte nur wissend und gab nickend sein Einverständnis. „Dann bring ihn doch erst zu den Heilern.“ „Ja, werde ich machen.“ Er berührte Velajuel vorsichtig mit seinem langem Schneeleoparden-Schweif am linken Arm. „Komm, es ist nicht weit. Kannst du noch laufen?“ Velajuel nickte tapfer und Runan brachte ihn zur großen Hütte der Heiler. Er stellte sicher, dass die Heiler ihn sofort holen würden, wenn etwas nicht passte und verließ die Hütte erst wieder, als sie ihm mitteilten, dass der Blauhaarige eingeschlafen war.
Die Unterhaltung mit Ragnar brachte ihn wenigstens ein wenig auf andere Gedanken. Bevor er zu sich nach Hause ging, begab er sich nochmal zum großen Tempel der Schriftgelehrten. Dort holte er sich ein paar Bücher, Schriften, Bilder und eben alles, was er wohl brauchte, um Velajuel zu unterrichten. Er plante, vor allem am Anfang viel zuhause zu erledigen. So musste der Blauhaarige nicht sofort unter Leute und konnte sich an sein neues Umfeld gewöhnen.
Nur wo sollte er wohnen? Jeder Gottträger hatte ein eigenes Haus, dass für ihn müsste bestimmt gerade hergerichtet werden, nur sollte er ganz allein dort wohnen? Runan selbst hatte kein eigenes. Er wohnte in der Unterkunft der Schriftgelehrten. Er biss sich auf die Lippen. Vielleicht sollte er den Blauhaarigen bei dessen Eltern einquartieren?
Runans Kopf rauchte, nachdem er sich Tagelang darüber und über andere Dinge Gedanken gemacht hatte. Velajuels Eltern wollten sofort zu ihm, doch da der Gerettete mehrere Tage durchschlief, war das zuerst nicht möglich und instinktiv wusste Runan, dass das noch keine so gute Idee war. Er war sich nicht ganz sich warum...
Den Grund erfuhr er ziemlich schnell, nachdem er in der Heilerunterkunft angekommen war, um den erwachten Velajuel zu besuchen. Nur um festzustellen, dass seine Eltern schneller dran waren als Runan. Er hörte die aufgelöste Stimme der Mutter und trat in das Einzelzimmer ein. Er fand die kleine Familie eng zusammen in einer Umarmung, wobei der Blauhaarige beinahe darin zerquetscht wurde. Sein Schneeleopard knurrte, sobald er Velajuels Unsicherheit und einen Hauch Angst roch.
Der dunkle Laut schrecke die Eltern auf. Mit großen Augen starrten sie ihn verständnislos an, während sein Seelentier in ihm unruhig wurde und er sich zwischen die Älteren und den Schutzgottträger schob. Er spürte sofort, wie Velajuels Anspannung etwas nachließ und strich ihm beruhigend mit seinem Schweif über dessen Handgelenk. „Es tut mir Leid, aber ich befürchte dafür ist es zu früh...“ Er deutete zur Tür. „Ich komme gleich und bespreche-“ „Du hast nicht das Recht uns hier rauszuwerfen!“, unterbrach die Mutter ihn und wollte sich an ihm vorbei zu ihrem Sohn drücken. Sein Knurren ließ sie allerdings zurückzucken, rief aber stattdessen den Vater auf den Plan, welcher nun vor ihm stand. „Es ist nicht so, dass ich euch nicht verstehe!“, knurrte Runan dominant und peitschte mit dem Schwanz. „Aber-“
„Sie wollen mich nur sehen, das ist okay.“, mischte sich da plötzlich Velajuel mit ein. Seine Hand legte sich beruhigend auf Runans Unterarm und als er sich zu ihm drehte, wurde er wieder mit diesem leeren Lächeln angesehen. „Es ist eben nicht okay.“, murmelte Runan mit zusammengezogenen Augenbrauen und musterte die Körperhaltung des Kleineren. „Ich bin hierfür da, dass du nicht überfordert wirst. Jeder will dich kennen lernen, jeder will den geretteten Träger von Benten die Hand schütteln. Aber das geht nun mal nicht sofort.“ Er wandte sich an die Eltern. „Bitte versteht das. Wir überfordern ihn. Er ist nicht einmal einen ganzen Tag wach und hat keine Ahnung von allem. Er versteht euch nicht einmal.“
Runan hatte automatisch zwischen den verschiedenen Sprachen gewechselt, ihm fiel das fast gar nicht mehr auf. „Ihr macht ihm Angst, auch wenn das sehr schwer zu verstehen ist. Er braucht Freiraum.“ „Du verlangst von uns, dass wir uns von unserem eigenen Sohn fernhalten?“, zischte ihn die Frau an. Er schüttelte den Kopf. „Nein, nur dass ihr euch ihm langsam annähert und alles von ihm aus gehen soll. Wenn er Körperkontakt will, okay kein Problem. Wenn er mit euch reden will, auch kein Problem, ich kann sehr gern alles übersetzen. Aber nicht zu viel auf einmal. Für ihn seid ihr genauso Fremde wie ich einer bin.“
„Entschuldigung?“, Velajuel zupfte vorsichtig an Runans Ärmel. „Du verstehst mich, oder?“ „Ja, tue ich.“ Der Schneeleopard wandte sich mit seiner gesamten Aufmerksamkeit dem Geretteten zu, während seine Eltern wohl erst mal Runans Worte verdauen mussten. „Sind das... meine Eltern? Ich kann mich nur dunkel erinnern... und ich verstehe sie nicht.“
Der Weißhaarige musste innerlich tief durchatmen, bevor er weitersprechen konnte. Er hatte schon geahnt, dass der Kleinere nicht mehr viel wusste. Aber... die Erkenntnis traf ihn trotzdem hart. Jedoch traf ihn Velajuels Verständnis und sein zwanghaftes Fröhlichsein deutlich mehr. Runan nickte langsam. „Ja... sie haben dich sehr vermisst. Sie verstehen nicht, dass du...“ „Das ist okay. Dad hat schon gesagt, dass ich freundlich zu meinen echten Eltern sein soll.“ Blinzelnd starrte Runan den Blauhaarigen an und schüttelte verwirrt den Kopf. „Dein … Dad?“ Velajuel nickte. „Mein Dad eben. Er hat mir viel im Loch beigebracht.“
Runan versuchte die Aussage zu verstehen und vermutete, dass er mit „im Loch“ die dreckige Gefängniszelle meinte. Laut Ragnars Beschreibung war der Begriff ziemlich passend. Vielleicht hatte ein anderer Gefangener den kleinen Jungen unter seine Fittiche genommen? Das könnte es zumindest ein wenig erklären. Der Gedanke daran, dass er nicht ganz allein war, beruhigte sein aufgewühltes, inneres Seelentier ein wenig.
„Okay... Velajuel..“ „Du kannst mich gern V nennen. Ist kürzer.“ Er lächelte ihn an. Runan lächelte zurück. „ Okay, V. Ich bin Runan. Ich bin hier, um dir zu helfen.“ Der Weißhaarige wendete sich kurz den Eltern zu, die sie beide beobachteten, aber kein Wort verstanden. „Soll ich sie wegschicken? Du kannst irgendwann mal zu ihnen gehen, wenn du willst. Aber die Heilerin müsste gleich wieder kommen, um deine Wunden anzusehen und ich denke, dass deine Eltern das nicht sehen sollten.“
Es brauchte etwas, doch der Blauhaarige nickte schließlich. „Kannst du ihnen bitte sagen, dass es mir leid tut?“ Verwundert musterte Runan den Kleineren erneut. „Was tut dir leid?“ „Dass ich mich kaum an sie erinnern kann.“, erklärte er und zum ersten Mal erkannte er einen Hauch Traurigkeit auf Vs Gesicht. Der Moment währte nicht lange, dann rutschte das Lächeln wieder auf seine Lippen.
Schweren Herzens nickte er und nahm beiden Eltern mit vor die Tür. Die Heilerin drückte sich bereits hinter ihn ins Zimmer, während Runan mit den Beiden sprach, bevor er sie wegschickte und wartete, bis die Heilerin wieder hinaus kam.
Die harten Worte von Vs Mutter würden ihn wohl noch lange im Ohr bleiben. Es war deutlich, dass sie ihm nicht glaubte. Immerhin lächelte ihr Sohn sie wie ein Sonnenschein an. Aber Runan wusste es besser. Dieses Lächeln war nicht echt. Er wusste es, weil er es selber gut kannte. Nach dem tragischen Tod seines kleinen Bruders hatte er dieses Lächeln selbst jahrelang aufgesetzt und setzte es heutzutage noch auf, wenn das Gespräch auf die Tragödie gelenkt wurde.
Das Zuschlagen der Tür brachte ihn zurück ins Hier und Jetzt. Er musterte die Heilerin und machte sich auf das Schlimmste gefasst. „Seine Wunden heilen gut. Dank unserer Gene würde ich behaupten. Aber psychisch kann ich nichts sagen.“ Sie machte eine Pause und seufzte. „Sein rechtes Auge fehlt, aber es hat sich zum Glück nicht entzündet. Wer auch immer das war, hat es gut abgebunden. Er hat keinerlei Tiermerkmale mehr. Bentens Schuppen sind verschwunden, an den ursprünglichen Stellen auf der Haut finde ich nur noch vernarbte Stellen. Sie haben sie vermutlich rausgezogen... ich denke er wurde oft gefoltert.“ Ein starker Beschützerinstinkt flammte plötzlich in Runan auf und er hatte große Mühe, seinen inneren Schneeleoparden wieder in den Griff zu bekommen. Er zog trotzdem scharf die Luft ein und ballte die Hände zu Fäusten.
„Dann waren diese Geschenke der Menschen...“, brummte er leise und erinnerte sich an Rengars Worte. Die Heilerin nickte. „Ja. Bei den geschickten Gegenständen handelt es sich eindeutig um sein rechtes Auge und um Bentens Schuppen.“ Runan zischte. Das war grausam! Wofür?! Weil die Menschen die Thán hassten? Sie hatten den Menschen nie etwas getan! „Rengar und das Stammesoberhaupt habe ich bereits darüber informiert. Der Krieg steht.“, ergänzte die Heilerin. Auch wenn sie ein gutmütiges Wesen besaß, es gab Grenzen, ganz eindeutig. Runan konnte ihren Ärger verstehen. Er nickte.
„Was kann ich für ihn tun?“, fragte er dann. Er wollte V helfen! Er konnte sich gar nicht vorstellen, was der Blauhaarige alles durchstehen musste. 23 Jahre war einfach eine so verflucht lange Zeit!
„Das Beste wäre, wenn du mit ihm redest. Achte auf seine Körperhaltung. Er lehnt nichts ab. Vielleicht wurde ihm das eingetrichtert. Lass ihn nicht allein, Runan. Sei einfach du selbst. Er braucht einen bodenständigen Aufpasser, keinen aggressiven Muskelprotz.“ „Ich bin nicht mein Bruder.“, erwiderte er trocken und musste lächeln. „Wie lange soll er eigentlich hierbleiben?“ Die Heilerin überlegte kurz. „Es wäre mir lieber, wenn du ihn gleich mitnimmst, bevor er vom ganzen Stamm Besuch bekommt. Wartet, bis es dunkel wird.“
Als die Heilerin ging, trat er wieder in den Raum. Velajuel saß auf dem Bett und lächelte ihn an. Langsam schloss Runan die Tür hinter sich und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. Er seufzte und fuhr sich durch seine kurzen Haare. „Wie geht es dir?“, fragte er dann. V lächelte. „Laut der Heilerin ganz gut.“ Er musterte Runan ein wenig, bis sein lächeln verrutschte. „Du scheinst wegen mir sehr viel auf dich zu nehmen.“ Sofort schüttelte Runan den Kopf. „Nein. Ich habe mich freiwillig gemeldet und will dir wirklich helfen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie überfordernd das hier alles sein muss. Vor allem, wenn alle eine fremde Sprache sprechen und du keine Erinnerungen mehr hast … deshalb... wenn du irgendwelche Probleme hast, wenn du mir etwas erzählen willst oder wenn du fragen hast, dann komm gern zu mir okay? Du musst mir allerdings nichts erzählen, was du nicht willst. Hier wird dir niemand weh tun, wenn du etwas ablehnst, das verspreche ich dir. Und sollte das trotzdem passieren, zerreiß ich denjenigen in der Luft.“
Runan sagte das nicht nur so. Er meinte das verflucht ernst!
V nickte stumm, erwidern tat er allerdings nichts. Sein übrig gebliebenes Auge senkte sich, bis sich sein Fokus auf Runans peitschenden Schneeleoparden-Schweif legte. „Sag mal... darf ich das anfassen?“, fragte er. Verwundert nickte Runan einfach nur und setzte sich aufs Bett neben V, sodass er besser drankam. Vorsichtig nahmen Vs Finger seinen Schweif in die Hand und strichen über sein weißes Fell. „Wie machst du das? Ich meine... das ist ungewöhnlich...“, murmelte der Blauhaarige.
Runan konnte nicht anders als zu schmunzeln und zuckte mit seinem rechten Schneeleoparden-Ohr. „Das ist ein Teil unserer Rasse, den Thán. Jeder von uns hat ein Seelentier in sich und meines ist ein Schneeleopard. Ich kann meinen gesamten Körper in das Tier verwandeln, wenn ich will, aber meistens trage ich nur den Schweif, die Ohren und die Augen.“ Er deutete auf V. „Du kannst das auch. Dein Seelentier ist eine Schlange. Aber nicht nur das, du bist von der Göttin der schönen Künstin, Benten, als Träger ausgewählt worden....“
Er erklärte V den restlichen Tag die Grundsteine ihrer Rasse und ihres Glaubens. Er versuchte den Armen nicht hoffnungslos zu überfordern, aber da er immer wieder nickte und er irgendwann Runan dazu aufforderte, sich einmal ganz zu verwandeln, glaubte der Weißhaarige, dass er auf einen guten Weg war.
Aber in diesem kleinen Raum wollte er sich nicht verwandeln. Er sah nach draußen und stellte erfreut fest, dass es bereits dunkel geworden war. „Dann gehen wir nach draußen. Du kannst heute sowieso gehen und dann kann ich dich noch ein wenig im Wald herumführen, wenn du die Kraft dazu hast.“ Der Blauhaarige nickte und zusammen traten sie schließlich aus der Heilerhütte.
Zum Glück wartete draußen niemand. Geschickt schlüpfte Runan mit V durch das hintere Tor, hinein in den Wald und das ohne großes Aufsehen zu erregen. Die stationierten Wachen winkten ihn nur stillschweigend zu, dann verschwand der Weißhaarige mit Velajuel hinter den nächsten Büschen.
Während der Blauhaarige sich ein wenig schwer im Unterholz tat, hatte Runan keine Probleme. Er wollte nur ein wenig weiter vom Dorf weg, bis sie bei dem kleinen Trainingsplatz stehen blieben und er sich an V wendete. „Es dauert einen Moment, bitte erschreck dich nicht.“
Das war auch schon alles, was er sagte, bevor er die Augen schloss. Er brauchte gar nicht nach seinem Seelentier greifen. Der Schneeleopard war sofort an der Oberfläche und übernahm die Kontrolle über Runans Körper. Dank seiner Magie zerrissen seine Klamotten nicht, nur seine Muskeln knackten und verformten sich schmerzhaft.
Der Prozess dauerte keine fünf Minuten bevor vor Velajuel ein ausgewachsener, großer Schneeleopard stand. Anders als normale Tiere waren die Seelentiere der Thán von Natur aus größer. Deshalb überragte Runan den Blauhaarigen um einen guten Kopf. Seine Schulterhöhe müsste jetzt geschätzte zwei Meter betragen und das war noch klein, wenn er sich mit Ragnar oder Rengar verglich.
Sein Seelentier senkte sofort den Kopf und schnüffelte V von oben bis unten ab. Dieser ließ es einfach geschehen und streckte sogar die Hände aus, um über Runans Stirn zu streicheln. Instinktiv begann er zu schnurren und entlockte dem Blauhaarigen ein Grinsen. „Das ist … wow!“, gab er von sich und lief einmal um den Schneeleoparden herum, bis er an dessen Kopf ankam. „Darf ich dich anfassen?“
Runan legte seinen Kopf schief, bevor er sich einfach auf den Bauch legte. V nahm das als Zustimmung und ging auf die Knie, um Runans Hals zu umarmen. „Du bist so unglaublich flauschig!“, murmelte er gegen sein Fell, was Runan zum begeisterten Jaulen brachte. Sein Schweif peitschte aufgeregt und er drückte sich gegen den Blauhaarigen.
Bis er sich einfach auf den Rücken legte und V damit umständlich auf seinen Bauch zog. Dem Blauhaarigen entkam ein überraschter Schrei, doch er ließ sich einfach darauf ein und fand sich zwischen Runans großen Tatzen wieder, die er einfach anstupste und sich dann gegen Runan presste.
Dass er gar keine Angst vor ihm hatte, faszinierte Runan. Er konnte sich nicht anders helfen, als mit seiner großen Zunge über Vs Gesicht zu schlecken und seinen Geruch auf dem Jüngeren zu verteilen. Im Nachhinein vielleicht eine nicht ganz so intelligente Aktion, aber das war ihm in diesem Moment egal, Denn V kicherte einfach nur und es klang verflucht ehrlich.
Als sie zurück zum Dorf liefen, hatte sich Runan bereits wieder zurück verwandelt. Er hatte ein zufriedenes Grinsen aufgesetzt, doch sobald er am kleinen Tor seine Mutter stehen sah, verging es ihm wieder. V hob verwundert den Kopf, als Runan einfach stehen blieb und die schwarzhaarige Frau mit denselben Leoparden-Ohren, auf sie zukommen ließ.
Zuerst musterte sie ihn, dann V und seine angesabberten Klamotten, bis sie seufzte und ihre Hände in die Hüften stemmte. „Sag mal, geht’s noch? Du sollst auf ihn aufpassen und ihn nicht fressen!“ Ihre Stimme war streng und Runan senkte sofort betroffen den Kopf. „Ich habe ihm nur gezeigt, dass wir uns verwandeln können und wollte ihm die Angst nehmen...“ „Indem du ihn abschlabberst?“, kommentierte sie sarkastisch. „Das war nicht wirklich klug durchdacht, mhhh? Dabei habe ich dich immer für den Klügsten meiner Kinder gehalten... ach was solls.“ Sie wendete sich von ihm ab und trat an V. „Könntest du mich bitte vorstellen und sagen, dass er sehr gern bei uns wohnen kann, solange sein Haus noch nicht fertig ist?“
Überfordert starrte er seine Mutter an. „Was?“ „Du hast mich schon verstanden Ru.“ „Aber-“ „Wir wissen beide, dass er nicht bei seinen Eltern wohnen sollte. Rakia ist nicht im Dorf und dein Vater wohnt wegen den Kriegsvorbereitungen mehr im Hauptversammlungsgebäude als bei mir. Deshalb wollte ich das Haus räumen, um euch Platz zu machen. Du wirst doch mit kommen und auf ihn aufpassen, oder?“ Ihre unterschwellige Drohung hätte selbst Ragnar verstanden.
Seufzend nickte er und erklärte V die Situation. Der Blauhaarige sah seine Mutter verwundert an, bis er seine Hand hob und sich vorstellte. Seine Mutter lächelte den Blauhaarigen warm an und Runan wusste, dass sie ihn am liebsten in den Arm genommen hätte. Aber sie konnte sich beherrschen. Sie hatte Velajuels leeres Auge ebenfalls bemerkt, da war er sich sicher.
Am Ende landeten sie zu dritt in Runans Elternhaus. Seine Mutter kochte noch etwas heiße Milch für sie auf, bevor sie ins Bett gingen und sich ausruhen konnten.
Am nächsten Tag begann Runan langsam, V mit Kinderbüchern an die neue Sprache ranzuführen. Dabei brachte er ihm alle Kindermärchen bei, die er auch als Kind vorgelesen bekommen hatte und die jeder im Stamm kannte. Außerdem stellte er fest, dass Velajuel trotz seiner Befürchtungen gut erzogen wurde. Sein „Dad“ aus diesem Loch hatte ihn Lesen und Schreiben beigebracht, einige sehr nützliche Überlebenstipps und grundlegende Werte. Zudem fand Runan heraus, dass V durchaus eine künstliche Ader hatte, passend zu seiner Schutzgöttin in ihm.
Besucher ließ Runan nur in Maßen zu. Allen voran die anderen, aktuell anwesenden Schutzgottträger, Vs Eltern, solange sie ruhig blieben und ihn nicht überforderten und ein paar andere wichtige Leute im Dorf. Für alles andere war es deutlich zu früh, das bemerkte Runan immer wieder, wenn er Vs Körperhaltung studierte.
Allgemein konnte sich V nur durch seine Körpersprache ausdrücken. Er lehnte wirklich absolut nichts ab. Runan konnte sich nur schwer vorstellen, wie die Menschen Velajuels Widerstand und Willen gebrochen hatten. Dabei wurde ihm übel und er musste sich immer mehr zusammenreißen, um den Jüngeren nicht einfach in seine Arme zu ziehen und fest zu drücken.
Zudem hatte Runan sehr schnell bemerkt, dass V an Albträumen litt. Seine leisen Schreie hatten ihn in der Nacht alarmierend aufwachen lassen, doch sobald er in Vs Schlafzimmer gesehenen hatte, hatte er den sich hin und her wälzenden Blauhaarigen erkannt. Er hatte sich hilflos gefühlt, weil er nichts tun konnte. V würde nur wieder lächeln, sobald er ihn aufwecken würde.
Deshab hatte er nichts unternommen. Runan hatte gehofft, dass V irgendwann von sich aus zu Runan kommen würde. Aber er war nie gekommen.
In einer Nacht schrie V so laut und verzweifelt nach Hilfe, dass Runan es nicht mehr aushielt. Er stürmte in Vs Schlafzimmer zog den sich quälenden Blauhaarigen in seine Arme und drückte dessen Gesicht in seinen Nacken. „Es wird alles gut, es ist nur ein Traum...“, murmelte er immer wieder in Velajuels Ohr und strich ihm über den Rücken, bis das Wimmern verstummte und der Blauhaarige scharf die Luft einzog.
Er war aufgewacht. „Was ist los?“, fragte er müde und verwirrt. Runan nahm in an den Schultern und drückte ihn kurz von sich, um den Blauhaarigen mit weit aufgerissenem Auge zu mustern. Der Jüngere lächelte zwar nicht, aber seine Tränen waren versiegt und er wischte sich einmal über das Gesicht, sodass auch die letzten Spuren verschwanden. „Du hattest einen Albtraum...“, erklärte Runan platt. Er wusste nicht warum, aber plötzlich kamen ihm die Tränen. „Ich … du hast so geschrien und gefleht, dass es aufhören soll... du klangst so … ich wusste nicht weiter. Ich konnte dich nicht einfach allein lassen, ich...“ Er schniefte und spürte die Tränen aus seinen Augen kullern. Sein Herz krampfte zusammen und er schüttelte verzweifelt den Kopf. Er ließ Vs Schultern los, um sein Gesicht in seine(seinen) Hände zu vergraben. „Es muss so furchtbar für dich sein! Ich kann mir das alles gar nicht vorstellen... Es tut mir so Leid... Es tut mir so verflucht Leid, dass du das alles durchmachen musstest! Aber du solltest... du solltest wissen... dass du nicht mehr allein bist...!“ Seine Stimme brach.
Es war schon jämmerlich. Er wollte Velajuel Trost spenden und brach stattdessen selber vor ihm in Tränen aus. Er zuckte kurz zusammen, als er Vs Hände auf seinen Armen spürte, bevor er seine Hände sinken ließ und sich von V in eine Umarmung ziehen ließ. „Es ist okay... das muss dir nicht leidtun.“, erwiderte V mit sanfter Stimme und fuhr durch Runans weiches Haar. „Du hast keine Schuld daran... bitte mach dir nicht so viele Sorgen. Es ist alles okay.“ „Ist es nicht!“, erwiderte Runan trotzig und holte tief Luft. „Dir geht es nicht gut und ich kann nichts dagegen tun!“
„Wusstest du, dass deine Ohren geknickt herunterhängen, wenn du traurig bist?“, murmelte Velajuel plötzlich und nahm seine Schneeleoparden-Ohren in die Finger. Er begann sie sanft zu massieren und gluckste dabei. „Das lässt dich richtig süß aussehen!“ Runans Herz krampfte bei diesen Worten zusammen und zitternd holte er Luft.
„Du tust mehr als genug für mich... du bringst mir all diese Dinge bei... dank dir kann ich ein wenig mit meinen Eltern reden... und verstehe einiges besser.. und schau mal.“ Er rutschte ein wenig von Runan zurück und schob seinen Ärmel nach oben. Damit offenbarte er drei schimmernde Schuppen auf seinem Unterarm. „Sie wachsen langsam nach... ich denke auch dank dir. Du gibst mir den nötigen Freiraum, dass ich-“ Runan unterbrach ihn einfach, indem er sich auf den Jüngeren warf, ihn damit auf das Bett drückte und gegen seine Brust weinte.
Nach dieser Nacht war die Bindung zwischen ihnen irgendwie anders. Runan konnte es nicht genau beschreiben, aber V war etwas offener gegenüber ihm. Er redete nicht nur, wenn er direkt angesprochen wurde, sondern verwickelte Runan von sich aus in allerlei Gespräche. Er suchte deutlich mehr Körperkontakt und sein Lächeln erreichte beinahe sein Auge.
Aber leider nur beinahe.
Dafür war seine Körpersprache offener und nicht mehr so verkrampft, was Runan als kleinen Erfolg ansah. Seine Nächte waren zwar immer noch recht schlimm, aber sobald V aufwachte, schlich er sich jedesmal heimlich in Runans Bett und kuschelte sich an ihn. Beim ersten Mal tat Runan so, als würde er schlafen. Er hatte vor Angst nicht gewagt zu atmen, doch V hatte ihn nur etwas aufgezogen und sich an seinen Arm gekuschelt.
Ab und an nahm er sogar Runans Schneeleoparden-Schweif als Kuscheltier-Ersatz. Runan selbst erwischte sich dabei, wie er immer wieder seinen Schweif um Vs Handgelenk schlang oder ihn einfach viel zu oft damit berührte und fluffte.
Die Zeit verging. Das Fest zur Geburt der Schutzgötter wurde gefeiert, zwei Tage darauf zogen die Thán in den Krieg. Runan blieb mit Velajuel und zwei anderen Schutzgottkriegern im Dorf. Ein paar ältere Krieger sowie immer ein Elternteil der Kinder blieben ebenfalls. Jemand musste im Fall des Falles den Stamm beschützen.
Runans Vater blieb ebenso. Er hatte sich als Stammesoberhaupt zur Ruhe gesetzt und der Stamm hatte Rengar als Nachfolger anerkannt. Nach ein paar wenigen Kämpfen um die Rangfolge hatte er sich glorreich behauptet und niemand zweifelte seine Führungsposition an.
Ragnar war ebenso in den Krieg gezogen und hatte seine rothaarige Menschenfrau zurückgelassen. Runan hatte versprochen, ein wenig nach ihr zu sehen und sie freundete sich mit V an. Dem Blauhaarigen schien es von Tag zu Tag besser zu gehen und Runan freute das sichtlich.
~*~
Eines Tages stellte Runan erfreut fest, dass Vs Tiermerkmale vollständig zurückgekommen waren. Seine gespaltene Zunge, welche die Menschen zusammengenäht hatten, war wieder vollständig geheilt und züngelte, während der Blauhaarige das Buch laut vorlas. Seine Schuppen befanden sich wieder sichtbar auf seiner Wange und auch an seinen Armen und seinem Hals. Sein Auge konnte V jetzt beliebig anpassen und sein ganzes Verhalten unterschied ihn jetzt nicht mehr so sehr von den anderen Thán.
Glücklich stemmte Runan seinen Ellenbogen auf den Tisch und legte seinen Kopf auf seine Handfläche. Er war stolz auf V. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen und bestimmt steckte noch so viel Trauma in dem Jüngeren, aber das würden sie schon schaffen.
„Hab ich dich eigentlich schon mal gelobt?, unterbrach er Velajuel deshalb. Verwirrt hob dieser den Kopf und musterte Runan neben sich. Er lächelte ihn nur breit an. „Du bist echt gut geworden. Deine Aussprache wird immer besser und das hier ist schon ein fortgeschrittenes Buch... wenn es so weiter geht, brauch dich dich gar nicht mehr zu unter-“
Er blinzelte.
Dann weiteten sich seine Augen vor Schreck, als er realisierte, dass V ihn gerade küsste. Seine weichen Lippen pressten sich auf seine und bewegten sich etwas, während der Blauhaarige sich vorgelehnt und seinen Arm auf Runans Schulter abgelegt hatte.
Erschrocken wich Runan zurück und unterbrach damit den Kuss. Sein Herz raste und ein seltsam warmes Gefühl machte sich in seinem Bauch breit, doch sein Kopf schüttelte sich langsam und er stand panisch auf. V folgte ihm. „Ich liebe dich.“, wisperte der Blauhaarige leise und wollte sich gegen Runan lehnen, doch der Schneeleopard zuckte weg.
Da bemerkte auch Velajuel Runans gesamte abwehrende Körperhaltung und blieb erstarrt stehen. „Was ist los?“, fragte er leise. Sein aufgerissenes Auge aus flüssigem Gold sah bettelnd zu ihm auf. „Ich...“, Runan schüttelte immer noch den Kopf und presste seinen Kiefer aufeinander. Sein Magen verkrampfte sich, als sein Gehirn aussetzte und er gepresst ausatmete. „Ich darf nicht... ich kann nicht.“, hauchte er dann aus. In seinem Kopf schrien die Stammesregeln auf und er zitierte sie vor V.
„Keine Liebe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern.“
Die darauf herrschende Stille wurde nur von Runans laut pochendem Herz unterbrochen. Sein Mund war furchtbar trocken und er schluckte mehrmals, um den Klos in seinem Hals loszuwerden. „Es tut mir-“ „Ist schon okay... ich hab es anscheinend missverstanden. Deine Hilfsbereitschaft... alles... war weil das deine Art ist, nicht wahr?“ V lächelte ihn an. Mit diesem verfluchten, gebrochenen, seelenlosen Lächeln. „Ich hatte sowieso das Gefühl, dass ich hier nicht reinpasse... ich bin kein Thán. War ich vielleicht nie... danke für alles.“
Damit ließ er Runan alleine.
Runan konnte nichts anderes tun, als gegen die Wand zu fallen und auf den Boden zu rutschen. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen, bevor er jämmerlich das Weinen anfing, während sein Seelentier in ihm nach Velajuel schrie.
Irgendwann fand seine Mutter ihn, immer noch zusammengesunken an der Wand. Sie fragte nicht nach, sie setzte sich einfach nur neben ihn, zog seinen Kopf an ihre Brust und begann zu schnurren. Sie wie sie es immer getan hatte, wenn sie eines ihrer Kinder beruhigen wollte. Sie blieb still, schnurrte und strich ihm durch seine Haare, bis er sich einigermaßen beruhigt hatte und wisperte: „Ich habs vermasselt.“
Er konnte nicht mehr sagen, ohne erneut in Tränen auszubrechen. Er spürte, wie ihre Finger seine Ohren berührten und spürte sie seufzten. „Du hast einiges vermasselt, aber du musst genauer sein meine kleine Pfote. Was hast du vermasselt?“ Er begann zu zittern. „Ich hab V verjagt... Er... er hat mich geküsst.“
Kurz herrschte Stille, bis sie das Wort ergriff. „Und das ist schlecht weil?“ Ihre Stimme war sanft. Absolut nicht das, womit er gerechnet hatte. Verwundert stemmte er sich auf und funkelte sie herausfordernd an. „Weil das gegen die Stammesgesetze geht! Er ist ein Mann! Ich darf das nicht! Ich darf ihn nicht lieben!“ „Aber du liebst ihn und zwar weil er dein verfluchter Seelengefährte ist.“ Ihre Worte waren hart, ihr Gesichtsausdruck dagegen weich. Verwundert darüber starrte er sie einfach nur verständnislos an. Sie seufzte, nahm sein Gesicht in ihre Hände und wischte ihm die Tränen von den Wangen.
„Weißt du, ich habe schon von Anfang an eine gewisse Bindung zwischen dir und Juel bemerkt. Du hast dich so anders verhalten, hast plötzlich einen Beschützerinstinkt gegenüber ihn entwickelt. So wie Ragnar sich gegenüber Aurora völlig anders verhält, hast du dich bei Juel anders verhalten und es selbst nicht gemerkt. Du bist deinem Zwilling ähnlicher, als du glaubst. Ihr seid beide schrecklich darin, eure eigenen Gefühle zu verstehen.“
„Aber!“, wollte er protestieren, doch sie schüttelte nur den Kopf. Sie ließ sein Gesicht los und schnipste gegen seine Stirn. „Hör doch einfach mal auf, dein Schriftgelehrten-Gehirn zu verwenden und hör auf dein Herz! Was fühlst du da drin?“ Sie legte ihre Hand auf seine Brust, direkt über sein Herz. Er schluckte, starrte auf ihre Hand, dann auf den Boden. Es fiel ihm nicht leicht, seine Gedanken und alles, was er gelernt hatte, abzulegen. Es wurde ihn von Kindesbein auf eingetrichtert. Sein Stamm hatte Vorrang, die Gesetze waren Gebote der Götter. Aber... wenn es das alles nicht geben würde... wenn er auch nur ein klein wenig egoistisch sein durfte.. dann...
„Ich … liebe ihn.“, murmelte er dann leise. „Ich kann dich nicht hören!“, schnautze sie. „Ich liebe ihn!“, schrie er ihr entgegen.
Daraufhin erhielt er ein stolzes Lächeln. „Und dann hast du nichts besseres zu tun, als auf dem Boden zu sitzen und zu weinen? Wie wärs, wenn du ihn suchst und ihm genau das sagst?“
Runan blinzelte. Er verstand ihre Intention nicht ganz. „Du hast... nichts dagegen?“ Er erntete nur einen bösen Blick. „Wäre ich dann hier? Nein! Und jetzt geh! Finde den armen Jungen und mach ihm den Hof, verflucht noch mal! Um den Stamm kümmere ich mich. Was wollen die schon tun? Den geretteten Schutzgottträger wieder rauswerfen?!“
Sie scheuchte ihn regelrecht auf und warf ihm aus dem Haus.
Runan drehte sich um. Er ließ sich das nicht noch einmal sagen. Schnell hatte er sich in sein Seelentier verwandelt und hetzte Vs Geruch hinterher. Dabei hatte er schon eine Vermutung, wo er sein könnte. Immerhin kannte er den Weg aus dem Wald nicht, aber zu einem versteckten See, den Runan immer besuchte, wenn er Zeit zum Nachdenken brauchte und Ruhe wollte.
Er würde Velajuel finden!
Dachte er zumindest.
Auf der Hälfte des Weges zum See begann es zu regnen und die Geruchsspur verschwand. Am See angekommen fand er V nicht. Was ihn allerdings unruhig werden ließ, war der verfliegende Blutgeruch. Er drückte seine Nase auf den sumpfigen Boden und suchte nach frischen Spuren, hoffte, dass V nichts dummes getan hatte. Seine Ohren rauschten, als seine Nase plötzlich auf etwas festes stieß. Mit der Pfote putzte er den Dreck weg und erschrak fürchterlich.
Er war auf eine von Velajuels Schlangenschuppen gestoßen. Das Blut wurde vom Regen weggewaschen, doch er konnte es deutlich riechen. Und daneben lag noch eine. Und noch eine. Schuldgefühle schnürten Runan die Kehle zu, als er die vielen herausgezogenen Schuppen entdeckte. Was hatte V nur getan?!
Denn einen anderen, fremden Geruch konnte er nicht riechen. Selbst durch den Regen hätte er Eindringlinge erkannt.
Aus einem Impuls heraus rannte er wieder los. Er brüllte in den Wald und suchte jede einzelne Stelle ab, die er V gezeigt hatte. Aber der Blauhaarige war wie vom Erdboden verschluckt. Schwer atmend blieb Runan auf dem kleinen Trainingsplatz schließlich stehen. Er war völlig durchnässt und zitterte am ganzen Körper, da er sich keine Rast erlaubt hatte.
Er würde sich niemals verzeihen, wenn sich V umgebracht hatte! Hätte er doch nicht so lange am Boden gekauert! Hätte er direkt gesagt, was er fühlte! Hätte er doch nur anderes reagiert!
Verzweifelt schloss er die Augen. Runan wusste nicht weiter. Er war am Ende.
Plötzlich schnappte seine Nase einen neuen Geruch durch den nachlassenden Regen auf. War das etwa... Geruch von Rauch?!
Er öffnete seine Augen und hob seinen Kopf. Ja... das war eindeutig Rauch! Durch den Wald konnte er Flammen erkennen! Der Wald brannte?! Nein, das war … das war das Dorf! Der Schneeleopard schnappte erschrocken nach Luft und zwang seine Beine zum Laufen.
Wurden sie angegriffen? Ausgerechnet jetzt?!
Runan bemerkte sofort, dass es kein feindlicher Angriff der Menschen war, sobald er durch das Tor brach und auf den brennenden Tempel zu rannte. Weder roch er den schweren Geruch von Metall, doch noch konnte er fremde Soldaten durch die Hütten laufen sehen. Nur völlig verschreckte Bewohner, die er allen mit einem Brüllen beruhigte.
Schlitternd blieb er schließlich direkt vor dem halb brennenden Tempel stehen.
Im Eingang stand Velajuel. Mit erhobenem, blutigem Messer in der Hand, gebeugt über den vierzehnjährigen Träger des Gottes für langes Leben.
Der junge Hirsch bewegte sich kaum noch, seine Fingerspitzen zuckten und sein Atem ging flach. Eine Blutlache breitete sich unter seinem Körper aus, während er winselte und bettelte, dass V ihn doch verschonen sollte.
Runan blinzelte. Mehrmals. Dieses Bild... dieser Anblick ging ihm nicht in den Kopf. Der Gelehrte verwandelte sich zurück und näherte sich Schritt für Schritt den Blauhaarigen, der das Messer in den Händen hielt und absolut nicht wiederzuerkennen war.
„Velajuel?“, sprach Runan seinen Namen aus und sorgte dafür, dass der Blauhaarige in der Bewegung einfror. Sehr langsam drehte er seinen Kopf zu Runan, nahm ihn in Augenschein. Sobald V ihn erkannte, senkte er das Messer. „V...“, murmelte Runan und näherte sich ihm ganz, ganz langsam. Hinter ihm konnte er die anderen Thán erkennen, doch das war ihm völlig gleichgültig.
Für ihn zählte absolut nichts mehr, außer Velajuel.
„Was machst du da...?“, fragte er leise. Er befand sich keine fünf Schritte mehr von dem Jüngeren entfernt. Der Blauhaarige wimmerte bei seinen Worten. „Ich... muss … den richtigen Moment abpassen... wenn alle weg sind... wenn sie im Krieg sind... ich muss die Schutzgottträger töten, dann habe ich keine Schmerzen mehr. Nie wieder... Dad hat es versprochen!“
Sein zwanghaftes Lächeln war ausgelöscht. Zurück blieb Velajuel, der zum ersten Mal in Tränen ausbrach und verzweifelt Runan ansah mit diesem gebrochenen Blick. „Ich kann … ich... ich kann das nicht mehr Ruru! Ich will... dass es aufhört! Es … geht nicht mehr... nicht nochmal... ich ...“ Seine Stimme brach.
Runan spürte seine eigenen Tränen und versuchte sie mit aller Gewalt zu unterdrücken. Er näherte sich noch zwei weitere Schritte, bevor er vor V auf die Knie ging und seine Hände nach ihm ausstreckte. Er hatte einen beschissene Verdacht, was gerade abging, aber das musste warten. Es musste alles warten. V brauchte ihn. Er brauchte ihn und Runan wäre verdammt, wenn er diesen Hilfeschrei ignorierte.
„Niemand... wird dir mehr weh tun, versprochen Velajuel! Es wird alles gut... bitte... leg das Messer weg...!“ Er streckte sich dem Blauhaarigen entgegen. „Ich liebe dich V. es... es tut mir leid, so verflucht leid, dass ich das nicht vorher sagen konnte! Aber bitte... bitte... glaube mir, dass ich dich beschützen werde! Ich werde niemals zulassen, dass dir irgendwer mehr weh tut...“ Er schluckte, spürte die Tränen über seine Wangen laufen und zwang sich weiter zu reden. Er musste V alles sagen, was er fühlte. Er musste es deutlich machen, er bekam keine zweite Chance!
„V.. mein Jewel... ich würde die Welt für dich verbrennen! Ich werde jeden Einzelnen dort draußen zerfleischen, der dir weh getan hat! Aber bitte... lass diese Leute hier am Leben... vertrau uns... Sie haben dir nie etwas getan! Sie können dich beschützen! Wir sind deine Familie, V! Bitte lass mich-“ Seine Worte wurden vom Klang des auf den Boden aufkommenden Messers verschluckt.
Im nächsten Moment schmiss sich V in seine Arme und brach dort zusammen. Der Blauhaarige krallte sich an ihn, weinte gegen seine Brust. Runan legte einfach seine Arme um ihn und presste ihn fest an sich.
„Ist schon gut... ist wird alles gut...... Ich liebe dich....“
Runan wusste nicht, wie lange er vor dem Tempel hockte und Velajuel hin und her wiegte. Es kümmerte ihn nicht, dass der Regen wieder zunahm und somit den Tempel löschte. Der verletzte Junge wurde von den Heilern behandelt, die aufgescheuchten Thán verschwanden einem nach dem anderen, vermutlich von seiner Mutter davongejagt.
Er blieb einfach dort sitzen, bis Vs letzte Träne versiegt war und er in seinen Armen endlich zur Ruhe kam. Vorsichtig strich Runan über Vs Wange. Er meinte seine Worte ernst.
Er würde die Welt für ihn anzünden, wenn er es von ihm verlangte...
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Das wäre es gewesen :3
Ich wünsche euch allen Frohe Weihnachten!
Danke, dass ihr meine Geschichte gelesen habt :3
lg eure tiger
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